Violeta Mikić

Pausenbrief 09 | 2017

Hoppla, hier komme ich!
Die Inflation der medialen Selbstdarstellung

Liebe Leser,

»wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« Diese altbekannte Zote aus Therapeuten- 

kreisen avanciert derzeit zur Realsatire: Die sogenannten Selfies, also fotografische (häufig exzentrische) Selbstinszenierungen in den sozialen Netzwerken, sind so inflationär wie verpönt. Medienpädagogen schlagen Alarm. Von absurder Zurschaustellung ist die Rede, der oberflächlichen Suche nach Anerkennung und dem Verlust wahrer Identität. Sind wir von eitlen Zombies umgeben? Ich darf Sie diesbezüglich in den folgenden Zeilen beruhigen. Und wie immer heißt es dabei: Genießen Sie Ihre Pause! 

 

Das Selfie-Phänomen wird nicht allein vom digitalen Zeitalter befeuert. Es ist vielmehr ein uraltes Bedürfnis des Menschen, sich immer wieder neu zu erfinden und zu präsentieren. Heute outet sich vor allem die Jugend mehr oder weniger beschämend im Netz, viele von ihnen dürften es später einmal bereuen. Aufnahmen dekorierter Betrunkener (googeln Sie das bloß nicht!) tummeln sich in den untersten Schubladen der Peinlichkeiten. Aber das Internet bietet auch ernsthafteren Selbstdarstellern ganz neue Reichweiten. Allein der jüngste Wahlkampf hat keine Mittel und Wege ausgelassen. Unsere Politiker scheuen sich nicht, mit ihren Werbespots auf Facebook-Profile zu brettern und sich neben selbst ernannte Künstler, Literaten oder Sportskanonen zu gesellen (und was sonst die Algorithmen alles über meine persönlichen Interessen herausgefunden haben wollen).  

 

Pardon, jetzt bin ich abgeschweift. Kein Wunder bei dieser medialen Reizüberflutung. Selbstdarsteller hat es auch schon vor Facebook, Instagram, Twitter & Co. gegeben. Heute wie damals finden sich echte Perlen unter all den Sich-selbst-immer-wieder-neu-Erfindern. Die Filmikone Charlie Chaplin, auf sämtlichen Kanälen ewige Wiederauferstehung feiernd: als Diktator, als Charmeur, als verlorenes Rädchen im Getriebe des Industriezeitalters … Freilich handelte es sich bei Chaplin um einen rein berufsmäßigen (Selbst-) Darsteller, der durfte das. Der aktuellen Medienkritik am Laien-Posing hätte er wohl allenfalls ein amüsiertes Lächeln geschenkt. Aber auf seine heutigen Selfies, würde er noch leben, wäre ich gespannt.  

 

Mein Fazit: Wer sich klug in Szene setzt, gehört überall hin. Sie dürfen sich also jederzeit auf allen erdenklichen Plattformen dar- und verstellen, verschiedene Identitäten annehmen – was immer Sie wollen und welche Rollen Sie auch immer bekleiden mögen. Präsenz ist gut. Aber tun Sie es bewusst. Charlie Chaplin mahnte: »Filmemacher sollten bedenken, dass man ihnen am Tag des Jüngsten Gerichts all ihre Filme wieder vorspielen wird.« 

 

Nun sitzt er im himmlischen Kino, und ich geselle mich gern in die erste Reihe. Nichts gegen Selbstdarsteller mit Chaplin’scher Grandezza! In diesem Sinne grüßt herzlich:  

 

Ihre Violeta Mikić. 

 

 

 

 

 

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