Pausenbrief 04 | 2020
Coming home
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
es ist im Augenblick sehr
schwer, etwas zu Corona zu sagen. Es ist aber genauso schwer, nichts dazu zu
sagen. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, dem Thema für die heutige
Ausgabe meines Pausenbriefs doch etwas beizusteuern, wenngleich auf andere,
medial vielleicht noch nicht verbrauchte Art.
Ich will über Chancen
sprechen, die diese Krise uns bietet, unabhängig von der Frage, ob wir
Katastrophen brauchen, um kreativ zu werden. Unabhängig auch von der Tatsache,
dass die Ausbreitung des COVID-19 Virus weiterhin entsetzliche Situationen
schafft für Einzelne wie für unsere Gesellschaft. Hier aber muss ich nicht nur,
sondern möchte ich selbst ruhig bleiben, um bewusst den Ärzt*innen,
Virolog*innen und Entscheidungsträger*innen in den Gesundheitsausschüssen die
Einschätzungen zu überlassen.
Nun gehöre ich allerdings
zu den Leuten, die die ersten Aufrufe der Mediziner zur Kontaktvermeidung,
Anfang März auch die der Bundesregierung zur prophylaktischen Hausquarantäne
nicht nachvollziehen konnten. "Wie, ohne Körperkontakt sollen wir
leben?" Ich war fast empört. "Wo kommen wir dahin? Fallen wir zurück
in die Eiszeit?" Gerade als Coach weiß ich doch, dass Berührungen, seien
sie emotionaler, ritueller oder repräsentativer Natur tief prägend für uns
Menschen sind. Ohne Körperkontakt verkümmern wir. Aber wie schnell wurde klar,
dass ich hier selbst an einer Stelle reichlich unbeweglich war.
"Im Moment ist nur
Abstand Ausdruck von Fürsorge", sagte Angela Merkel in ihrer
Fernsehansprache vom 18. März. Wie recht Sie damit hat. Und nun plötzlich sehe
ich selbst, wie sich in den Büros, Supermärkten, Warteschlangen Szenen echter
Freundlichkeit entfalten: Mit einem Mal grüßen wir auf der Straße Fremde, wir
nehmen uns in Acht, lassen anderen den Vortritt, entwickeln aktiv Mitgefühl,
werden empathisch, wir spüren unseren eigenen Aktionsradius und richten unsere
Motorik neu aus, und all das nur, weil wir zum Abstand gezwungen sind. Paradox
hin oder her, es ist ein phantastisches Szenario. Augenscheinlich sind wir in
eine Spurrille gerutscht, in der sich positive Energie aufbaut einfach schon
deshalb, weil wir uns als Gleiche unter Gleichen wahrnehmen. Alle haben in
diesen Tagen vergleichbare Gedanken, nur dass das diesmal kein Effekt von
Abstumpfung ist.
"Coming home"
ist ein besonders schönes Wort im Englischen. Es gilt im buchstäblichen wie
übertragenen Sinn: Wir haben gegenwärtig die Chance, bei uns selbst
einzukehren, anzukommen. Aus Zeitfenstern werden Panoramen. Überraschend sieht
man mehr. Aus unentschiedenem Schweigen wird produktive Stille. Überraschend
kommuniziert man wirklich anstatt nur zu organisieren. Die Verlangsamung des
Alltags führt dazu, dass viele von uns in Kontakt zu ihren Quellen kommen,
möglicherweise zum ersten Mal. "Ich habe eine Ahnung, dass ich mutig
bin." "Ich empfinde, ich habe Kraft an Stellen, die ich bislang nicht
kannte." Das vermittelt sich bereits in Coaching-Sessions immer öfter. Jenseits
der Erkrankungsformen entwickelt sich Corona zum Denkangebot: Wie möchte ich
leben und warum?
Übrigens, wissen wir
eigentlich, wie viele Menschen in unserem Land permanent so leben, so
konzentriert, so kontemplativ, dabei notwendig nervös und abhängig von
sprunghaften Entwicklungen? All die Künstlerinnen und Künstler, Autoren,
Lyrikerinnen, Maler, Musikerinnen und Philosophen leben so, deren Werke wir
bewundern. Die Zeit ist da, uns selbst in diesen Zustand zu bringen, durch den
sich unsere Sinne strukturieren lassen.
Last but not least noch
einmal etwas zur Rede Angela Merkels. Ihr allererstes Wort nach der
Begrüßungsformel war auch goldrichtig: "Das". "Das Virus",
nämlich, heißt es (nicht "der")!
Die Vokabel stammt aus dem
Lateinischen und bildet dort eines von nur drei Wörtern auf -us der o-Deklination, das ein
Neutrum ist. Die zwei anderen wären vulgus (Volk, Menge, Leuteschar) und pelagus (Meer, Flut,
die offene See)... Schiffen Sie bitte denkbar gut durch die Untiefe,
herzlich gute Wünsche,
Ihre
Violeta Mikić