Violeta Mikić

Pausenbrief 03 | 2020

Faule Früchtchen

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Ich komme vom Markt. Äpfel gekauft. Ich fachsimpele immer mit meinem Verkäufer, der Topaz ist mein Klassiker: "Ja, das nennt man einen Kulturapfel", sagte Herr Bursch. Aber was ich vom Natyra hielte, dieser neuen Biosorte? Besonders schmackhaft, saftig und bissfest. Natyra kannte ich nicht. "Lässt sich auch besonders gut lagern." Ich nahm 1 Kilo. Ich vertraue meinem Händler. Eben packe ich sie aus. Auf meinem Tisch liegen 10 leuchtende, rotbackige Äpfel, alle fäustchengroß und sortengeprüft, deutsches Obstforschungsinstitut, sogar einen Infozettel bekam ich mit, Streuobstwiese, Gütesiegel, www-Adresse, und in meiner Küche duftet es jetzt nach schattiger Apfelblüte, vielleicht sogar etwas Zitrus.


Gestern kam eine Kollegin zurück, sie lebt zeitweise in Griechenland, war lange in Ländern der Levante tätig. "Levante" – wir kennen das heute eher als "Krisenstaaten rund ums Mittelmeer". Jedenfalls brachte sie frische Granatäpfel mit. Normalerweise kriege sie immer welche vom Nachbarn, aber der ernte nicht regelmäßig. "Kein Blut ohne Moder", sage Herr Jannis immer und habe deshalb diesen Winter alles am Baum den Spinnen überlassen. Jetzt sei sie also am Markt gewesen, habe sich versucht. "Wieso denn versucht?" "Ach, das kennst Du nicht?", fragte sie mich zurück. Das Spielchen spiele sie doch seit Jahren:


Man winkt dem Verkäufer, man will Granatäpfel. Welche, woher, die Früchte liegen durcheinander in Kiepen, pflaumengroße neben Wackersteinen, überall noch Zweige, die kleinen Spinnen sind da. Man fässt alles an, legt alles zurück als wolle man gar nichts kaufen. Der Verkäufer übernimmt. Er fässt alles an, legt demonstrativ alles zurück, dann nimmt er zwei Granaten und stemmt sie über den Kopf, wiegt sie vor einem imaginären Publikum, nebenher verkauft er Bananen aus Übersee. Am Schluss weist man auf genau die Früchte, die man am schönsten findet. Man passt auf wie beim Hütchenspiel. Diesen und nicht jenen ródi, bitte. Der Verkäufer ist besänftigt. 9 Granatäpfel wickelt er sorgsam wie kleine Kinder ein, legt noch ein Minzbüschel dazu, und wir rechnen ab. Und dann packst du die Tüte zuhause aus, die Minze duftet herrlich, und ein Granatapfel ist verfault. Meine Kollegin jubelt. "Was?!" rufe ich. Sie lacht sich kaputt. Das sei eben das Spielchen. Sie sei glücklich, sie habe es wieder verloren, unfassbar. "Aber du hast die ganze Tüte extra im Handgepäck getragen, oder?" – "Klar. Aber ich kaufe in Griechenland ja auch nicht Granatäpfel. Ich kaufe eine Geschichte. Und die Granatäpfel kriege ich quasi dazu."


Warum, liebe Leserinnen und Leser, gebe ich diese Geschichte an Sie weiter?


Weil wir uns alle, denke ich, nach solchen Erlebnissen sehnen. Weil wir gleichzeitig solche Geschichten aber selbst nicht aushalten können. Die erste Frage, die auch Sie vermutlich hier stellen, lautet: Aber man hat doch den faulen Granatapfel bezahlt? Kriegt man das Geld zurück? Keineswegs. Weil wir mit der faulen Frucht etwas bekommen haben, das man manifest nicht verwerten kann. Minze übrigens ganz umsonst dazu. "Die Menschen im Süden nehmen das Leben einfach lockerer", so ist dann das Resultat unserer Auseinandersetzung. Im nächsten Urlaub holen wir uns das leichte Lebensgefühl vor Ort ab, wir beneiden Kulturen, in denen die Fähigkeit existiert, sich mäandernd durch den Alltag zu bringen. Aber am Flughafen wollen wir lieber, dass die Schlange vor dem Check-in schnurstracks verläuft. Allein, das eine und das andere geht nicht zusammen. Eventuell mit einer Ausnahme: Karneval.


Die tollen Tage sind gerade vorbei. Und selbst wenn Sie nicht in einer der Hochburgen wohnen, werden Sie wissen, dass das Gaukelspiel einen ernsten Kern enthält, der sich historisch verorten lässt: Er besteht darin, mit Absicht die Auflösung der Ordnung, das Komödiantische herbeizuführen. Das Jecke ist immer das Unlogische, der Umweg, der Zeitdieb, der große Aufwand, der nix bringt. Bei einer Umfrage im Rheinland rief eine kölsche Jecke auf die Frage, warum sie das alles täte, bei Graupelschauer acht Stunden auszuharren, um von einem Scheinprinzen einen Schokoriegel an den Kopf zu kriegen: "Na, weil ma jeck sin". Diese Replik schlägt alles. Weil sie Widerspruch mit Widerspruch beantwortet. Es erinnert durchaus an die Maximen unserer Nachbarn im Süden. Es geht nicht immer, liebe Nichtjecke und Nordlichter, um Zielführung. Manchmal auch darum, das eine zu sagen und das andere zu tun. Denn dazwischen entsteht – ein Freiraum.

 

Ihre Violeta Mikic