Pausenbrief 06 | 2021
Ein Stuhl ist ein Stuhl
Liebe Leserinnen, lieber Leser,
manche von Ihnen denken
eventuell schon an Sommerpause und Liegestuhl. Richtig so! Wir alle haben
Ferien verdient, und ich möchte Sie deshalb heute in der Gedankenschwelgerei
bestärken mit einem Thema, bei dem es genauso um Entspannung geht, allerdings
doch noch mit Blick aufs Büro. Wie das? – Es geht um den
"Komfortsitz".
Die "Ära
Homeoffice" hat nicht nur akute Fragen zur digitalen Durchführbarkeit von
Gesprächen und Verhandlungen aufgeworfen, sondern in unseren Zuhauses
Umwidmungen ganzer Einrichtungssegmente erforderlich gemacht. Nun lassen sich
Tische, Regale, Anrichten, Wanddekos ja auch umwidmen. Unsere Wohnzimmerkultur
ist schlagartig öffentlichkeitswirksamer geworden. Stühle jedoch bleiben meist
wie sie sind. Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl. Er könnte
schwenkbar sein. Oder auf Rollen daherkommen. Oder aus der Ecke Retrodesign.
Aber Leder kann man nun mal nicht streichen, Holz nicht einfach umbauen,
Sitzkissen nicht mal eben aufpolstern, bloß weil das Homeoffice visuelle
Neutralität erfordert.
Dagegen stand ab Tag eins
der Pandemie die Not, in geschäftlichen Kontexten "richtig sitzen" zu
müssen. Und zu meiner traurigen Überraschung ist vielerorts diese Not die Not
geblieben. Viele Menschen sitzen auf vielen falschen Stühlen gemessen an der
Tätigkeit, die sie von zuhause aus aufrechterhalten müssen. Die meisten von
ihnen wissen das nicht einmal. Ein Stuhl scheint unwichtig gegen die
Herausforderungen, die die Pandemie generell an uns stellt. Und man kann ihn
auch so leicht in die Ecke schieben.
Und doch, ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl. Ein
richtiger Stuhl ist geradezu etwas Ontologisches, er enthält eine Seinskunde.
Ein Stuhl ist die Prägeform eines Menschen in sitzender Gestalt. Setzen wir uns
hinein, geht auf uns über, was er anbietet. Er gibt vor, wir machen nach. Er
nimmt uns auf. Ein Stuhl ist ein Haus en miniature, manchmal sogar mit Dach
(Liegestuhl! Sonnensegel!). Aber bald rutscht man hin und her. Dann zappelt man
schon. Irgendwie passen seine Vorgaben nicht zu uns. Unter der Tischkante
beginnt man mit den Übungen für die Lendenwirbelsäule. Um nach einer Stunde
doch so zu sein wie er. Wir knicken ein. Ein Stuhl ist mächtig. Diskutieren
zwecklos. Das Problem entsteht natürlich immer daraus, dass der Stuhl höchstens
quietscht, uns aber in der Regel nicht das anbieten kann, was wir individuell
bräuchten, um konzentriert bei unserer Sache zu bleiben. Maßgefertigte Stühle –
das scheint fast spinnert. Dabei wäre es ein Beitrag zur Zivilisation.
Richtig zu sitzen
bedeutet im Grunde, richtig denken und handeln zu können, "richtig"
hier verstanden im Sinne von entspannt, wach, gesund, einvernehmlich. Nicht
umsonst heißt es, man nimmt "eine Setzung" vor. Etwas, das sich
gesetzt hat oder bald setzen soll. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden schrieb Heinrich von Kleist einen berühmten Text. Auch beim Sitzen werden
Gedanken allmählich verfertigt, und deren Güte hängt zu einem nicht geringen
Teil von der Qualität der Rahmenbedingungen ab, die ein Stuhl uns vorgibt.
Ich schlage deshalb vor,
stehen Sie auf und schauen sich Ihren Sparringspartner aus der Nähe an. Mit ihm
zusammen zum digitalen Panel anzutreten erfordert, dass er Ihnen die
Möglichkeit bietet, über viele Stunden geballte Informationen aufnehmen und
auswerten zu können. Ihr Stuhl ist Ihr Coach während des Auftritts. Ein guter
Geist, der Ihnen alle halbe Stunde heimlich auf die Schulter klopft, die
deshalb auch nicht mehr verspannt. Ihr Stuhl muss Sie buchstäblich
unterstützen. Das nenne ich dann auch den "Komfortsitz" – die
Tätigkeit des bewussten Sitzens verbunden mit dem Entschluss für einen Stuhl,
der Ihre Präsenz erhält unabhängig von Stunde, Dauer oder Anstrengungsgrad
Ihrer Meetings.
Ich schliddere ins
Sprachspiel: Ein Komfortsitz erlaubt, dass Sie sich anstatt mit Ihrem Sitzmöbel
ausschließlich mit Ihrer fachlichen Position auseinandersetzen können. Aber warum nicht
spielen?! Faktum ist, liebe Leserinnen, liebe Leser, am Ende dieses Pausenbriefes
sind wir den Ferien noch ein Stückchen näher gerückt. Und vielleicht messen Sie
nach der Sommerpause Ihren Stuhl im Homeoffice mit dem Gefühl, das sich
einstellen wird, sobald sich demnächst Komfort sogar mit einem Sundowner mixt!
Kommen Sie gut an,
bleiben Sie laaaaange sitzen, und kommen Sie umso besser zurück!
Der nächste Pausenbrief
heißt Sie Anfang August willkommen,
Ihre Violeta Mikić