Violeta Mikić

Pausenbrief 02 | 2022

Stumme Diener?

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

heute geht es um Requisiten. Um die Fülle der Objekte um uns herum, derer wir uns gerade auch bei Präsentationen, Meetings und Podiumsdiskussionen immer wieder bedienen, ohne uns viel Gedanken darüber zu machen – Tische, Stehpulte, Stühle, Wassergläser, Mikrofone, Karteikarten, Fernbedienungen, das kleine Blumengesteck des Veranstalters, die Sicherheitsnadel hinterm Revers... Faktisch sind wir von einer Horde stummer Diener umgeben, die uns alle dabei helfen, unseren Auftritt erfolgreich zu machen. Doch sind unsere Helferlein tatsächlich so stumm, wie wir glauben?


Viele von uns kennen bestimmt jene Tage, an denen sich alles verselbständigt – dann knickt das Stuhlbein weg, das Wasserglas kippelt, der Mikrokontakt wird unterbrochen, die Karteikarten haben plötzlich Eselsohren, peinlich, wie kamen die dahin? Das sind Momente wie im Märchen in dem Sinn, dass Objekte wie Lebewesen zu agieren scheinen. Unsere Beziehung zu den Dingen verkehrt sich dabei ins Gegenteil, und wir bekommen eine Ahnung davon, dass unsere stummen Diener mitunter ganz schön viel Macht auf uns ausüben können!


Ich entsinne mich genau an den allerersten Tag meines Schauspielstudiums. Es war in der Improvisationsklasse, und ich war fasziniert. Unser Lehrer stellte einen Stuhl in die Mitte des Raumes. Was das sei, fragte er uns. Nun – ein Stuhl! Er lächelte, nahm den Stuhl, stellte eine Tasse, ein Sahnekännchen und einen Zuckerstreuer darauf ab, setzte sich selbst auf die Erde davor und deutete an, dass er Kaffee trank. Tatsächlich war der Stuhl nun ein Tisch. Und so ging es natürlich weiter. Was aussah wie ein Stuhl, ließ sich als Treppe, als Leiter, als Schild, als Regenschirm, als Verhau, als Wägelchen, als Unterschlupf, als Waffe gebrauchen, und bevor jemand auf die Idee kam, die Stuhlbeine ins Feuer zu werfen zum Beweis, dass sie auch Scheite sein können, war die Übung zu Ende. Eine Welt öffnete sich für uns. Alles war, was es war – und daneben, darüber, darunter noch vieles mehr!


Der schweizerische Schriftsteller Peter Bichsel hat eine berühmte Kurzgeschichte geschrieben: Ein Tisch ist ein Tisch. Wenn man das zuerst hört, denkt man, okay, Tisch = Tisch. Wovon soll hier nun erzählt werden? Doch lässt man sich darauf ein – lesen Sie wirklich einmal diese verstörende kleine Chronik! – dann ist der Tisch eigentlich nur noch im Nebenberuf Tisch, und im richtigen Leben ist er ein Bett oder ein Haus oder ein Auto, eine Rakete, der Mond, die Sonne! Die Formel lautet in Wahrheit: Tisch ≠ Tisch.


Wenn wir das auf unsere Auftrittssituationen rückübertragen, verstehen wir, dass wir längst viel spontaner im Umgang mit unseren Requisiten sein dürfen. Blieben wir bei den alten, musterhaften Festschreibungen à la Stuhl = Stuhl, engten wir uns selbst ein und uns wird auch weiterhin nur das Hinsetzen einfallen. Überlassen wir uns jedoch der immanenten Spontanität der Objekte, erweitern sich unsere eigenen Möglichkeiten sprunghaft. Die Karteikarten werden plötzlich zum Fächer, der für ein kühles Lüftchen sorgt, die Fernbedienung wird zum Zeigestock, der Zeigestock zum Lichtfleck, der Lichtfleck zu einer Blume, die Sie, von der Wand pflückend, ins Publikum werfen können! 


Frühling zaubern!


Ihre Violeta Mikic