Violeta Mikić

Pausenbrief 05 | 2021

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust

Liebe Leser, liebe Leserinnen,

der Lockdown-Blues grassiert. Das ist ein hübsches Wort. Aber es beschönigt, wie die Lage für die meisten in der dritten Corona-Welle aussieht. Konkret sind es massive Stressformen, die viele durchleiden. Erste Studien bilanzieren die Folgen: Angststörungen, Schlafstörungen, Verhaltensstörungen, Bindungsstörungen, steigende Zahlen bei familiären Gewalttaten, Abhängigkeitserkrankungen, Depressionen. Nein, das ist wirklich kein Blues. Dazu lässt sich keine Melodie finden.


Dabei ist das Beunruhigendste, dass wir die stressauslösenden Faktoren oft gar nicht erkennen, weil sie in der Konstellation neu sind. Wir fühlen uns diesmal ja nicht unter Druck, weil wir zu viele Möglichkeiten vor uns sehen. Sondern weil wir plötzlich etliches nicht dürfen. Wenn ich keine Maske trage, habe ich mit Konsequenzen zu rechnen. Dass ich jemanden nicht berühre, ist die Devise und dass ich nicht verreise der aktuelle moralische Impetus. Es ist eine Zerreißprobe auf der Grundlage von Absagen, Unterlassungen und Warteschlaufen.


In dieser Situation las ich kürzlich die Goethe-Verse wieder von den zwei Seelen, die in einer Brust sitzen und sich miteinander streiten, Sie kennen es, oder? "Zwei Seelen wohnen, ach!, in meiner Brust", heißt es im Faust. Das "Ach" ist eigentlich schon entscheidend. Derjenige, dessen Brust hier mit diesen zwei zeternden Seelen ausgestattet ist, leidet und dreht und wendet sich und kann's doch nicht lösen, dass sich nämlich die eine Seele nicht "von der andern trennen [will|". Übersetzt in die Sprache unserer Zeit geht es um die Bedürfnisse des Herzens auf der einen Seite und die Bedingungen des Verstandes auf der anderen. Man spürt und ersehnt etwas. Doch das Über-Ich verbietet es. Seele #1: "Aber ich möchte jetzt so gerne in den Park hinaus, die Sonne scheint, einmal nur über diese Wiese rennen wie früher!" Seele #2: "Nein – es ist zu voll, das ist gefährlich, und mit Maske zu rennen, schadet der Bauchatmung." Seele #1 gibt sich bis zum Abend geschlagen. Dann beginnt es wieder: "Ich fühle mich so ausgelaugt, ich brauch einfach meine Portion Pommes Majo und ein Sixpack." Doch der Verstand sagt, "nein, das ist ungesund, Du unterlässt es". Diese Beispiele mögen banal sein. Doch vor allem sind sie real, und in ihnen liegen verkapselte Sehnsüchte und Normvorstellungen.


In dieser Situation hilft meiner Meinung nach die Selbstsorge. Einige nennen es Disziplin: Erstmal zu akzeptieren, dass man ein duales Wesen ist. Es gibt niemanden, der keinen Monkey Mind besitzt. Das ist doch schon mal sehr tröstlich. Es gehört zu unserer Spezies, unruhig zu sein. Mit diesem Wissen können wir es schaffen, milde gegenüber unseren zwei Seelen zu werden. Ich kann mich zurücklehnen, den Impulsen des Seinlassens hingeben und auf den faustischen Aufruhr in mir schauen als gucke ich von einem Berg ins Tal. Dann sehe ich zwar, welch Durcheinander dort herrscht. Aber gleichzeitig sehe ich das Sehen! Ich bin ja immer auch die wahrnehmende Instanz meiner selbst. Und diese Instanz ist seelenruhig, das ist ihre Natur. Alle Selbstsorge hat an diesem Punkt ihre Quelle wie ihr Ziel. – "Ach, ich bin heute wieder so durch den Wind, ich kann einfach nicht mehr", schreien die zwei Seelen. – "Gleichwohl, ich bin." – Wessen Stimme ist dies? – Ich denke, die unserer dritten Seele. 


Viele gute Wünsche für den Mai, 

Ihre Violeta Mikić