Violeta Mikić

Pausenbrief 07 | 2020

On Air – neue Zeiten, neue Gesten 

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wie viele von Ihnen wissen, beschäftige ich mich immer wieder mit der Bedeutung von Gesten. Nicht nur, dass ich selbst reichlich Gesten besitze und gebrauche, ich analysiere sie auch, und oft werden sie in meinen Coachings zum Gegenstand der Untersuchungen dessen, was Kommunikation ausmacht.


In den vergangenen Monaten habe ich dazu einige erstaunliche Beobachtungen machen können. Aktuell stehen die großen Ferien an. Viele von uns werden wieder reisen und sich in Länder aufmachen, deren Sprachen zwar fremd sind. Doch über die Zeichensprache des Körpers wissen wir uns zu verständigen. Gestikulation, Mienenspiel, Alltagspantomime, Gebärden und Posen – selbst wenn es Missverständnisse gibt, gestisches Sprechen gehört gerade da, wo kulturelle Unterschiede existieren, zu unserer semiotischen Grundausstattung.


Nun haben Sie vermutlich wie ich in der Corona-Zeit viel mit Videotelefonie zu tun gehabt. Was das Thema 'Gesten' anlangt, dachte ich, besseres Material für Feldforschung kann es kaum geben. Wo wir vorübergehend auf Präsenzerfahrung verzichten müssen, können wir doch darauf vertrauen, dass unser Gestenarchiv uns durch die kommunikative Dürreperiode manövriert. Dann schaltete ich wieder einmal ZOOM auf, wir waren an die 20 Teilnehmer*innen. Wie alle Male zuvor, fühlte ich mich schon nach wenigen Minuten eingeklemmt, ohne zu wissen warum. Mit unserem Team hatte es nichts zu tun. Wir kennen uns alle lange und gut, sind als Gruppe krisenfest. Und gerade das sollte, wie mir an diesem Tag plötzlich klar wurde, die Irritation erzeugen:


Die Gesten meiner Kolleg*innen, die mir so vertraut sind und auf die ich doch glaubte, mich verlassen zu dürfen, kamen bei mir immer nur wie verwischte Tintenschrift an. Sie kennen das, alle Teilnehmer*innen eines Videoprogramms schalten um der besseren Übertragungsqualität ihr eigenes Computermikro aus. Einzig die, die am Sprechen sind, bleiben 'on air'. Daraus entstehen winzige, aber über die Zeit doch grausame kleine Haarrisse in der Kommunikation:


Die Rückversicherung meines Redens funktioniert nicht mehr. Ich höre kein Raunzen und Räuspern, kein vertrautes 'hm hm', kein Papierrascheln, das Bing der eingehenden Mail beim virtuellen Nachbarn bleibt aus. Und vor allen Dingen sehe ich von niemandem mehr als nur die Büste. Infolgedessen registriere ich stets nur den Ansatz einer Geste, die, selbst wenn es um ein einfaches Kopfnicken geht, ja normalerweise durch den ganzen Körper wie eine Impulswelle läuft. Ich registriere also Gesten, die Fragmente bleiben und deshalb bei mir nicht 'einschnappen'. Das heißt, noch während ich selbst spreche, muss ich dem gestischen Feedback innerlich nachhechten. Mein kognitiver Radiosender sucht permanent nach der Frequenz der anderen, findet sie aber nur teilweise. Daraufhin bat ich die Kolleg*innen, mir gestische Signale zu senden, dass ich verstanden würde. Wir einigten uns auf die Daumenhoch-Geste. Doch damit begann das Menetekel erst!


Einige schickten über Chat-Funktion das entsprechende Emoticon. Kein Ersatz für eine menschliche Gebärde. Andere preschten in ihrer Bildkachel so oft mit ihrem erhobenem Daumen vor, dass ich erstmal diesen naiven Optimismus zu verarbeiten hatte. Wieder andere schämten sich für das reduzierte Symbol. Eine Kollegin sagte mir später, sie könne sich einfach nicht dazu durchringen, "den Trump-Finger machen". Sie schäme sich dafür. Es gehöre nicht zu ihrem Körperbestand. Und wieder andere karikierten die Sache. Sie brachten die Leichtigkeit zurück, aber nicht unbedingt die Sicherheit.


Ist das nicht verrückt? Gesten, die uns eingewachsen scheinen und als Individuum wie als Gruppe definieren, werden unter nur leicht veränderten Rahmenbedingungen missverständlich, gar kontraproduktiv. Und Gesten, die wir noch nie gesehen haben, bleiben in Erinnerung. Ein Kollege zog mit der flachen Hand neulich diagonal, Finger leicht gespreizt, von der Herzhöhe bei der Stirn vorbei Richtung Himmel. Kein Mensch wusste, was er damit sagen wollte. Wir fragten ihn, er lächelte, er wusste es selbst nicht, aber wiederholte die Geste am nächsten Tag und die Folgetage auch. Bald lächelten wir alle. Seit vorgestern denke ich mir das Wort "Traumtrommel" dazu. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich kann nur sagen: Ich wünsche mir, dass mehr Menschen sich so verstehen – auf Basis von Gesten, die uns mit dem Fremden zugleich Annäherung bringen.


"Traumtrommeln" wünsche ich Ihnen allen erstmal für den Ferienmonat! Note: Auch mein Pausenbrief wird im August auf Reisen gehen. Mit der Nummer #78 sind wir im September wieder für Sie da.

 

Viele gute Wünsche,


Ihre Violeta Mikić