Pausenbrief 04 | 2019
Rechts blinken, links abbiegen
Über das Wesen der Widersprüchlichkeit –
oder: die Regenbogenqualität
Liebe Leser,
im April ist man irgendwie nie so ganz angemessen gekleidet: Eben noch brachten uns frühlingshafte Sonnenstrahlen ins Schwitzen, schon trägt ein eisiger Wind die nächsten Schauer herbei. Kaum ein Monat kommt mit so gegensätzlichen Wetterkapriolen daher wie der April. Für die erblühende Botanik ist das in diesen Tagen genau das Richtige. Aber auch unserem menschlichen Naturell steht dieses launische Wechselspiel näher als gedacht. Was es damit auf sich hat, das erfahren Sie hier. Und wie immer heißt es dabei: Genießen Sie Ihre Pause!
Der Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer spottete kürzlich in einer Talkshow zum Thema Ökologie über Leute, die mit dem Porsche zum Bio-Markt fahren oder solche, »die viel fliegen und dann über Plastiktüten reden«. Kennen wir alle. Ja, der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen. Das gilt freilich nicht nur für Umweltaktivisten, sondern für jeden von uns. Wir vertreten lautstark das eine und tun dann plötzlich wieder etwas ganz anderes. Warum verhalten wir uns so widersprüchlich? Und muss das unbedingt immer etwas Schlechtes sein?
Es wäre wohl viel zu umständlich, nicht widersprüchlich zu agieren, findet der Berliner Sozialanthropologe Dr. Samuli Schielke: »Wir müssten uns immer genau überlegen, welche Folgen unser Handeln hat. Jede Situation setzt andere Fähigkeiten voraus, wir ändern ständig unsere Meinung.« Ein schlechtes Gewissen ist Schielke zufolge dennoch nicht angebracht. »Unser Handeln empfinden wir meist nicht als Widerspruch. Wir empfinden es erst dann als Widerspruch, wenn es uns moralisch stört. Ein Leben ohne Widerspruch gibt es nicht. Wir könnten gar nicht handeln, wenn wir uns nie widersprüchlich verhalten würden.«
Zwar schätze ich konsequentes Verhalten meiner Mitmenschen als verlässliche Größe, aber tatsächlich sind mir angemessene Kurskorrekturen lieber als stures Festhalten an eingefahrenen Rastern. Der Erhalt des Familienfriedens kann etwa in einer labilen Situation ein höherer Wert sein, als den eigenen Standpunkt durchzusetzen. Widersprüchlich erscheinendes Agieren beruht auch darauf, dass wir Menschen viele Facetten haben – und gelegentlich die Richtung ändern wollen. Wer sich immer starr verhält, kann sich nicht weiterentwickeln. In unserer natürlichen Widersprüchlichkeit bleiben wir offen, kritik- und kompromissfähig, lassen andere Meinungen und Aussagen in unser Leben. Oder anders gesagt: Wir lernen stets dazu.
Der Psychologe Friedemann Schulz von Thun bezeichnet den Menschen als ein »Sowohl-als-auch-Wesen«, das Wurzeln und Flügel zugleich besitzt. Gemeint ist damit, dass wir sowohl das Bedürfnis nach Beständigkeit und festen Strukturen haben wie auch den Trieb nach Veränderung, zu neuen Ufern aufzubrechen. Nicht entweder-oder, sondern beides. Beide Pole wollen »in der Dialektik des eigenen Daseins miteinander koexistieren, in unterschiedlichen Ausprägungen und Mischungsverhältnissen«. Alsdann gelte es, eine dynamische Balance innerhalb dieser Spannungen zu finden, polare Gegensätze auszuhalten und zu integrieren. Bei den Römern hieß es »contraria sunt complementa«, die Widersprüche ergänzen sich. Schulz von Thun spricht von Regenbogenqualitäten: »Der Regenbogen geht nur auf, wenn zwei konträre Erscheinungen – Regen und Sonnenschein – gleichzeitig vorhanden sind; erst dann entsteht diese besondere Schönheit einer Verbindung von Gegensätzlichem, das gleichzeitig vorhanden ist und sich durchdringt.«
Ja, der April macht bekanntlich, was er will. Und doch bringt er in seiner Divergenz die Natur zum Erblühen.
Es grüßt in diesem Sinne herzlich
Ihre Violeta Mikić.
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