Pausenbrief 06 | 2020
Halbe Ansichten
Liebe Leser, liebe Leserinnen,
Ich hatte eben überlegt, ob ich meinen aktuellen Pausenbrief für Sie nicht so beginne:
Lie? Leseri??, lie? Les?!
Befremdlich? Ja, für mich auch. Aber es ist genau das, was mir – hier nur ins Schreiben
übersetzt – täglich auf der Straße begegnet:
Halbe Ansichten, Gesichter, geteilt in eine Hälfte, die ich wiedererkenne, Augen, lebendige
Zeichen, Mitteilungen, die ich einordnen und auf die ich auch spontan reagieren kann. Die
andere Hälfte aber ist starr, wie ausgeblendet, szenisch blind, oft bunt, aber das hilft mir gar
nichts bei der Entschlüsselung, im Gegenteil. Es kommt mir nicht entgegen. Manchmal sehe
ich direkt unter einem lächelnden Augenpaar die Maske eines Zombiemauls oder
Katzenzähne. Karneval war doch vorbei? Ich ahne, das soll also ein witziger Umgang mit
dem sein, was uns doch alle tief beunruhigen sollte. Ich spreche von der "Maskenpflicht" im
Zuge des bundesweiten Maßnahmenpakets gegen die Ausbreitung des COVID-19 Virus.
Wie es Ihnen damit geht, würde ich gerne wissen. Bitte schreiben Sie mir auch dazu, wenn
sie möchten! Mir geht es damit nicht gut. Die kleinen Pannen mit den beschlagenen
Brillengläsern, dem täglichen Auskochen oder Wechseln des Mundschutzes lassen wir mal
außen vor. Wichtiger scheint mir zu sein, dass kein Tag vergeht, an dem nicht irgendeine
Irritation zu erleben ist, die mit dieser "Schutzpflicht" zusammenhängt. Nicht wenige
Menschen erschrecken, nach wie vor, wenn Ihnen ein anderer Mensch entgegenkommt, der
Maske trägt. Es kann Schichten berühren, die sich nicht so einfach an- und ausziehen
lassen wie im Moment der Mund-Nasen-Wickel. Unterliegende Ängste können getriggert
werden. Richtig, dass Psychologen hier auf Langzeitfolgen aufmerksam machen. Ich selbst
fühle bei jedem Anblick eines maskierten Gesichts wieder, als ob mir der Mund zugehalten
würde. Klar, das ist eine Übertragung, vielleicht aus Filmen, vielleicht aus Träumen. Aber
durch Übertragung entsteht konkret eigentlich erstmal Kommunikation. Nur für diesen Fall
leider eine entstellte. Tragen wir denn wirklich Masken, um unser Gegenüber zu schützen?
Ist das nicht ein vorgeschaltetes Argument? Denn eine "Solidargemeinschaft" zeichnet sich
doch wesentlich dadurch aus, dass sie Brot für alle bäckt, Missbrauch systematisch zu
unterbinden weiß, Benachteiligte beachtet, in gerechter Sprache spricht und fair handelt.
Aber nicht, in dem alle qua Verordnung einen kommerzialisierbaren Artikel schönreden.
Nein, in diesen Coronazeiten tragen wir Maske, weil wir Angst haben. Und durchs
Maskentragen entsteht neue Angst. Und so sieht im Zuge der sogenannten "Lockerungen"
des öffentlichen Lebens jetzt wieder alles aus wie sonst. Die Geschäfte sind offen. Die
Cafés und Eisdielen florieren. Die Freibäder rüsten sich für die Hochsaison, die Verkehrsnetze für die verdienten Sommerferien. Nur dass wir alle Masken tragen. Wo sind
wir gelandet? Der Begriff "Normalität" schien mir nie so fragwürdig zu sein wie dieser Tage.
Wie kann etwas normal sein, wenn Signale der Angst um jede Straßenecke biegen?
Was können wir denn aber tun? Das höre ich immer wieder. Auch von mir selbst. – Lächeln! – Wie kann man lächeln ohne Mund? – Mit Gesten! – Man kann mit den Armen lächeln, die
man ausbreitet, mit dem Hut, den man lüftet, man kann in die Luft schreiben, man kann die
Emoticons ins eigene Körperrepertoire rückübertragen. Egal was, seien wir erfinderisch im
Widerstand gegen das, was uns zudeckt! Zu lächeln ist der Weg aus der Angstfalle.
Viele gute Wünsche,
Ihre Violeta Mikic.