Pausenbrief 07 | 2019
Schwierige Zeitgenossen, Teil
3: Der Jammerlappen
Vom verborgenen Sinn des Lamentierens
Liebe Leser,
es
müssen nicht immer nur allzu offensive Mitmenschen sein – auch die leiseren
Töne können uns in der täglichen Kommunikation den letzten Nerv rauben. Das
gilt etwa für die ewige Litanei des Jammerns, die dieser dritte Teil der Reihe
»Schwierige Zeitgenossen« unter die Lupe nimmt. Lesen Sie hier, welche
positiven Aspekte sich dem Lamentieren dennoch abgewinnen lassen. Und wie immer
heißt es dabei: Genießen Sie Ihre Pause!
Irgendwas
ist immer. Zum Beispiel das Wetter! Zu heiß, zu kalt, zu trocken, zu nass. Stau
auf der Autobahn, Pollenflug, laute Nachbarn, Stress im Büro ... Unser Alltag
steckt voller Ärgernisse. Was der eine klaglos hinnimmt, ist für den anderen
willkommener Anlass zu ausgiebigem Jammern. Mit der unterschwelligen Botschaft,
man möge doch bitte das Leid dieses anderen teilen, ihm dabei helfen, die mehr
oder wenige schwere Last zu tragen. Der Jammernde appelliert an unsere
Aufmerksamkeit, er fordert Mitgefühl und Trost.
Auf
Schulhöfen nennt man sie heutzutage »Opfer«, im klassischen Sprachgebrauch sind
es die Jammerlappen, die sich nicht gerade größter Beliebtheit erfreuen. Die
erwünschte Zuwendung fällt für gewöhnlich mit der Zeit immer spärlicher aus;
der Zuhörer fühlt sich auf Dauer belästigt, emotional genötigt und geht auf
Distanz. Jammern macht einsam. Dieser Effekt wird noch durch das
allgegenwärtige Leitbild des »Positive Thinking« verstärkt: Alle Welt strebt
nach harmonischem Miteinander, möglichst ohne Sandkörnchen im Getriebe. Der
Jammerlappen ist ein Störenfried der eigenen Behaglichkeit, seine Klagen sind
unwillkommen.
So
weit das landläufige Szenario. Beim näheren Blick offenbart sich jedoch ein
differenziertes Bild: Jammernde
zielen nicht unbedingt auf den Wunsch nach Veränderung oder die Lösung eines
Problems ab, sondern häufig auf die soziale Interaktion. Gern wird ein Thema bemüht, über das man gemeinsam
lamentieren kann – wie etwa das obligatorische nasskalte Wetter im britischen
Smalltalk. Demgemäß beschreibt die US-Psychologin Robin Kowalski das Jammern
als »soziales Schmiermittel«. Ihr Münchner Kollege Dieter Frey bestätigt:
»Jammern verbindet; sogenannte shared cognition schafft letztlich Nähe,
Verbindung und damit Sympathie«.
Was
aber, wenn einem zum Beispiel die Kollegin zum millionsten Mal mit ihrer
Ehekrise in den Ohren liegt und sich gegenüber sämtlichen konstruktiven
Ratschlägen – von der ehelichen Aussprache über Paartherapie bis hin zur
probeweisen Trennung – taub stellt? Der Journalist Andreas Bernard beschreibt
solche Situationen als Endlosschleife: »Jammern ist das Begleitrauschen der
bestehenden Verhältnisse, ein Mantra der Passivität.« In diesem Fall scheint es
wohl legitim, sich dezent mit ein paar warmen Worten aus dem kollegialen
Plausch zurückzuziehen, das Thema zu wechseln oder zur Problemlösung auf geeignete
Experten zu verweisen.
Letztlich
ist die eigene Haltung gegenüber all den Unbillen des Lebens entscheidend. Das
jüdische »kvetshn« etwa steht für eine kreative Art des Lamentierens, das sich augenzwinkernd mit
dem Elend unseres Daseins auseinandersetzt und selbst im tiefsten Jammertal
noch eine heitere Leichtigkeit an den Tag legt.
Überhaupt bügelt die jiddische Sprache gern aus, was der Welt zu ungemütlich
ist. Mit dem Begriff »Balagan« (»totales Chaos«) beschreibt man Missgeschicke,
die nun mal nicht zu ändern sind. Die ganze Malaise ist in dieser Sprache, die
selbst voller Balagan steckt, ein leuchtendes Beispiel von Leidenschaft,
Lebendigkeit und Menschlichkeit.
Es
wünscht Ihnen allen in diesem Sinne viel »mazel tov« (viel Glück): Ihre Violeta
Mikic.
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