Violeta Mikić

Pausenbrief 11 | 2024

Von der Schönheit der Bewegung

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805/06), diesen tollen Aufsatz von Heinrich von Kleist hatte ich neulich aufgeschnappt . Ich war am selben Tag an einem Berliner Fließ unterwegs. Während ich spazieren ging, kamen beinahe von selbst Formulierungen wie: Über die allmähliche Verfertigung des Flusses beim Fließen. Kleist selbst machte in seinem Text auch Wortspiele, z.B.: "Der Franzose sagt l'appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodirt und sagt, l'idée vient en parlant." So habe ich dann, weiterspazierend, auch weitergesponnen und kam schließlich hier an: Über die allmähliche Verfertigung des Ganges beim Gehen.


Das ist nun keine Flaniertheorie. Auch soll Kleist sich nicht parodiert fühlen, im Gegenteil! Die Vokabeln "Gang" und "Gedankengang" kreuzen sich nicht zufällig. Ich meine also unbedingt, dass das stimmt: Der ganz individuelle Gang eines Menschen ist das Ergebnis feinster körperlicher Bewegungsprozesse. Unsere Bewegungen selbst aber sind, mit Kleist gesprochen, das Ergebnis unseres Denkens, unserer Gefühle und Emotionen.


Sind wir missmutig, hängen wir im Gehen so herum. Sind wir glücklich, strahlen wir nicht nur im Gesicht, auch bewegungstechnisch. Haben Sie schon mal ein Brautpaar mit hässlichem Gang gesehen? – Ich ja! Ich war als Hochzeitsgast dabei und nicht die Einzige, die dachte, oje, wie beladen die beiden wirken, da half auch weder Smoking noch Prinzessinnenkleid. Ein halbes Jahr später hörte ich, sie seien seit zwei Monaten geschieden.


Unser Gang ist ein Fingerprint. Was wir denken und fühlen, drückt sich in unsere Körper hinein. Aus diesem Grund können wir auch an den beweglichen Silhouetten von Leuten, die noch weit entfernt sind, etwa an einem Strand, bereits etwas von dem ablesen, wer sie sind. Robert Wilson schickte einmal einen japanischen Meisterschauspieler über einen Steg. Der Steg symbolisierte das Leben. Der Mann trat auf, und es war gespenstisch, mit welchem Wirklichkeitsgehalt er sich Schritt um Schritt, allmählig, von der Geburt zum Tod voranschob. Man vergaß darüber vollkommen den Schauspieler. Er war Kind, war Jüngling, war Mann, war Greis. Nach der Premiere fragte ihn ein Journalist, wie er das geschafft habe. Wo er all diese unfassbar präzisen emotionalen Erfahrungen bloß gespeichert bzw. wie abgerufen habe. Seine Antwort: "Ich bin – einfach nur gegangen."


Auf!


Ihre Violeta Mikić