Violeta Mikić

Pausenbrief 12 | 2021

Auf den Kopf gestellt

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

ein kleiner Gedankenbonbon heute von mir:


In unserer Zeit verschärfter Wandlungen, Revisionen, Korrekturen, Modifikationen, Neuregelungen, Umgestaltungen und was weiß ich nicht noch alles, steht die Suche nach sich selbst hoch im Kurs. Höher denn je. Beinahe ist eine Inflation der Selbstsuche im Gang. Zumindest hat es für die meisten Menschen keinen schlecht esoterischen Beiklang mehr, wenn jemand "Selbstsucher*in" ist. Eher einen von frischer, gesunder, oft mutiger Lebensführung, die sich als umfassendes Projekt versteht. Und so ist der Buchmarkt für Sinn- und Selbstfindung inzwischen auch für Leseratten unüberschaubar geworden. Und das Angebot für Self-Management-Kurse, Sauna-Wochenenden, Meditationen, Sport- und Wohlfühlreisen ist derart bunt und reich, dass es als eigener Wirtschaftsfaktor stehen kann. Wir tun unendlich viel dafür, mit uns selbst in Verbindung zu sein. Da frage ich mich halt schon manchmal, wann kommen wir denn mal an? Beziehungsweise: Ist überhaupt je eine Erfüllung drin? Denn irgendwie scheint die Selbstsuche ja nicht kausal zu funktionieren. Das Selbst optimiert sich nicht wie ein Regelwerk à la: Je mehr Goodies ich in den Nikolausstiefel meines Selbst hineintue, desto bessere Verbindung habe ich zu meinen Schokoladenseiten. Kurz, es gibt da wohl einen Widerhaken. Deshalb frage ich einfach mal andersherum:


Was tun wir eigentlich alles dafür, um nicht in Verbindung mit uns zu sein? – Rattert es bei Ihnen auch gleich wie bei mir?! Du liebe Güte, allein schon, dass ich diesen Plan habe, der beinhaltet, dass ich am Wochenende richtig ausspannen will, verhindert beides, erst die Entspannung, dann das Wochenende selbst, das rückblickend wieder nicht ganz so war, wie ich dachte. Dieser Das-Wochenende-soll-richtig-schön-sein-Plan gehört also bei mir zu den Dingen, die mich davon abhalten, dass ich samstags und sonntags einen höheren Sensus für mich selbst erreiche. Ja, dass ich überhaupt plane, ziemlich oft und verdammt viel plane, sabotiert den Inhalt der Pläne selbst. Es können natürlich auch Zigaretten, Netflix, die gute alte Telefonitis, eine seit Kindestagen gepflegte Lieblingsschmollhaltung oder der Tick sein, immer erst in letzter Sekunde vor Abfahrt des Zuges beim Bahnhof zu sein. Es können Millionen von Dingen sein! Das ist bei jedem anders. Aber definitiv haben wir alle diese subtilen Sabotagen in uns. Und eventuell sind sie sogar ersehnt! Dies mag unbewusst ablaufen, klar. Doch aus Gründen, die mit Aufwanderleichterung zu tun haben – sei es nun organisatorisch, sei psychologisch – sind wir Meister der Vermeidung dessen, was uns wahrhaft gut tut.


Der Coup nämlich bei der Verbindung zu sich selbst ist, dass diese Verbindung nicht von vornherein da ist. Selbstsinn ist nichts, das uns in die Wiege gelegt wurde. Im Gegenteil, so

verrückt es klingt. Sich selbst zu kennen, das muss man sich erarbeiten, Schrittchen für Schrittchen, wofür übrigens das Älterwerden eine ganz prima Sache ist.

Ich glaube, Selbstoptimierung läuft so oft schief oder wirkt wie eine unendliche Geschichte, weil wir die Routinen in uns, mit denen wir unsere Wünsche, Träume und Lieblingsmomente unterlaufen, nicht gut genug kennen. Lasst uns von daher mal abhängen. Aber so richtig. Darauf schauen, was wir assoziativ, automatisch tun. Und dann hier und da anhalten und bewusst in sich hineinhorchen, warum sich die Nähe zu sich selbst so weit weg anfühlt.


Denn um sich selbst zu finden, muss man womöglich etwas von sich sein lassen.


Mit guten Wünschen für die Adventszeit!

Ihre

Violeta Mikić