Violeta Mikić

Pausenbrief 11 | 2025

Die stille Arbeit der Distanz 

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

warum fühlt man sich fremden Menschen mit zunehmendem Alter eigentlich oft näher als uralten Freunden? Das beschäftigt mich. Mir geht es selbst so. Ich empfinde Fremde manchmal wie Freunde und Freunde wie Fremde. Kann das sein, frage ich mich dann, als wäre mein Gefühl nicht Beweis genug. Aber es ist nicht zu leugnen, mein Eindruck erhärtet sich sogar: das Vertraute, das mich etwa mit Schulfreunden bislang verbunden hat, rückt in die Ferne und steht als Fremdes da, auf das ich verrückterweise voller Vertrauen zuginge, wären es nicht die bekannten Gesichter. Zu diesem Eindruck gehört, dass das alles ganz schön schmerzhaft ist.


Ich beobachte ebenso Paare, deren vermeintlich gemeinsame Entwicklung ich gut kenne. Und mit einem Mal bemerke ich, dass die beiden sich selbst wie Fremde behandeln, obwohl sie doch die stärksten Bindungen hatten. Liegt es daran, dass trotz Partnerschaft eben doch jede und jeder von uns eine eigene Entwicklung nimmt, die nur noch darin übereinstimmt, dass sie nicht in die selbe Richtung geht? Schmerzhaft in der Tat. Wie lange 'arbeiten' wir nicht alle an Liebe, Treue, einem emotionalen Zuhause. Und Entfremdung soll das Resultat sein? Ich sehe dich jeden Tag, jede liebe Stunde – wer bist du?


Alte Freund- und Partnerschaften basieren auf gemeinsamen Erinnerungen. Allein mir scheint, wenn diese die einzige Verbindung bleiben und nichts Gravierendes – egal ob gut oder schlecht, schön oder hässlich – dazu kommt, entsteht eine seelische Distanz, die die Verbindung von innen heraus zerfasert bis sie jenseits der Gewohnheit eigentlich gar nicht mehr da ist. Dann wird Begegnung zum Moment der Störung, die zwischen einem stehen bleibt. Es ist paradox.


Selbstverständlich sind es auch Rollen, Erwartungen, unausgesprochene Geschichten von einst, die es uns schwer machen, aus den Zuschreibungen auszubrechen und der alten Freundin gegenüber jene Figur zu sein, die man im Grunde längst ist. Scham entsteht. Ich habe mich verändert. Damit riskiere ich Unsicherheiten in einem Lebensbereich, der seit der gemeinsamen Buddelkiste absolut unverrückbar schien. Wieder schmerzlich. Ehrlich gesagt, ich wüsste nicht mal, wo wir nach einem Rezept suchen könnten, um daran etwas zu ändern. Höchstens mit Gelassenheit. Wo finde ich, finden wir alle Vertrauen, wenn das Gute nicht unbedingt nahe liegt? 


Herzlichen Gruß in den November


Ihre Violeta Mikić