Violeta Mikić

Pausenbrief 04 | 2023

Gestik erfordert Gelenkigkeit!

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

im letzten Pausenbrief ging es um das Thema Mimik, im heutigen um die Gestik. Was ist Gestik? Nun, Gestik ist – so nehme ich es als Coach täglich neu wahr – im Grunde Mimik, die vom Gesicht aus weiter in den Körper fließt bzw. aus dem Körper ins Gesicht zurück steigt und sich dort konzentriert. Salopp könnte man sagen, Gestik ist die Mimik unserer oberen Gliedmaßen. Wir machen Gesten mit dem Kopf, den Armen und den Händen. Selbstverständlich gibt es Menschen, die mit ihren Knien gestikulieren können. Brecht soll gesagt haben, seine Seele säße im linken Knie, und man darf davon ausgehen, dass Brecht ein äußerst dynamisches linkes Knie gehabt hat. Doch wissenschaftlich ordnet man für die non-verbale Kommunikation alle Bewegungen, die mit dem Rumpf, der Wirbelsäule oder den Beinen ausgeführt werden, bereits der Körperhaltung zu. In dem schönen Wort "Gebärdensprache" ist dies noch enthalten; Gebärden sind Bewegungen mit sehr hohem Informationswert. Tiere etwa sprechen mit ihren Ohren, und Charlie Chaplin konnte es auch! Dagegen sind Gebärden, die man mit den Zehen macht, wegen der motorischen Einschränkung viel weniger sprachaffin und gelten deshalb eben nicht mehr als Gesten. Gestik erfordert Gelenkigkeit! Sicher auch im psychischen und soziologischen Sinn. Wer sich bewegt, bewegt andere mit.


Dazu kommt, dass Gesten sowohl universell als auch fixiert sind. Das scheint paradox. Der Gestus eines Menschen ist auf der einen Seite abhängig von seiner Herkunft, Ausbildung, kulturellen Prägung. Auf der anderen Seite werden Gesten weltweit verstanden. Es gibt Wörterbücher nur für Gesten mit Blick auf jene eine Sprache jenseits aller Sprachen. Jeder Mensch dürfte überall an etwas zu Trinken kommen, ohne die Vokabel für "Wasser" zu kennen. Alle Menschen verstehen Freude, die sich gestisch mitteilt. Und zugleich gibt es Gesten, die verloren gehen. Viele sind längst ausgestorben. Welche Bewegung machen Sie, wenn Sie mal telefonieren müssen? Wählscheibe oder Handy? Ich tippe auf die gestische Repräsentation Ihres Handys. Wählscheibe ist gestisch so gut wie tot.


In der Geschichte der Menschheit gab es Gesten, die allein Würdenträgern vorbehalten waren. Begegneten uns diese heute, wir bräuchten wahrscheinlich Dolmetscher für "Neinsagen Mittelalter – Neuzeit". Oder: "Ich will Dich" im alten Ägypten? Wie mag das ausgesehen haben?! Keine Ahnung. Ich wüsste nicht mal, wo ich im eigenen gestischen Haushalt anfangen sollte, hier nach einer non-verbalen Begrifflichkeit zu suchen. Die Geste der Liebenden von anno dazumal ist offenbar in mir ausgestorben, obwohl ich doch selbst Liebende bin. Deshalb sind Gesten so faszinierend, finde ich. Weil ihr Wendekreis groß und klein ist, immer beides. Sie sind ewig gültig – auf fluide Weise.


Ihre Violeta Mikic.