Violeta Mikić

Pausenbrief 04 | 2022

Heute muss ich nachdenken

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

um Mittag in einer großen Stadt mit B, es könnte aber auch H oder M oder F oder K sein, fährt eine Frau im Auto. Sie muss zum Arzt, kurzfristiger Termin. Sie ist froh, dass es noch klappt. Fast vor der Tür findet sie sogar einen Parkplatz. Als sie den Wagen zuschließt, bemerkt sie, dass sie ihre Brille zu Hause vergessen hat. Spontan will sie umkehren. Doch das lohnte sich nicht, nein, nein, und sie denkt: Wie schade. Aber dann hör ich mir eben einen Podcast an. Ich hab ja das Handy. Eingecheckt bei der Anmeldung und im Wartezimmer angekommen, greift sie in ihre Tasche – – Oh, das Handy habe ich ja auch vergessen. Tja. Also, was mache ich denn jetzt? In der Tat, was macht sie jetzt? Sie denkt: Nun gut, dann denke ich eben nach. Worüber denke ich denn nach? Bei all den Gedanken, die ihr durch den Kopf schießen, ist es nicht leicht, den einen interessanten, vielleicht sogar wichtigsten herauszufischen. Okay. Gezieltes Denken. Konzentrier dich. Denk einfach gezielt nach, wie ein Filter. Und während sie so auf der Suche nach der Stelle ist, mit der man wichtige Gedanken herein- und hinausfiltert, lehnt sie sich an eines der Kissen. Erst nur ein bisschen. Super, dass es hier das Sofa gibt. Es lässt sich so entspannter denken. Das Kissen sinkt ein. Sie sinkt hinterdrein. Sie schläft ein. Nachher hatte sie das Rezept und eine Packung ihrer Spezialsalbe in der Hand, für die der Termin nötig war. Wie alles zusammen – das Rezept, die Salbe und sie selbst – dahingekommen waren, wer weiß es?


Klar: Als ich aufwachte, stellte ich fest, dass ich selbst die Frau war. Die ganze Sache ist eine Kurzgeschichte aus dem "Real Life", wie man das heute nennt, und viel muss ich nicht mehr sagen, oder? Kurzgeschichten sprechen für sich, weil sie etwas enthalten, das uns alle betrifft. Kennen Sie diesen leeren Raum etwa nicht? Ich meine nicht mein Wartezimmer in der großen Stadt B, wo es Parkplätze vor der Tür gibt. Aber diese innere Nacktheit, wenn man auf sich selbst zurückgeworfen wird und kein Handy, kein Hörbuch und nicht mal mehr Muzak frequentieren kann. Dieser Innenraum ohne Möbel, der sich öffnet, wenn endlich alles so ist, wie man sich vorstellt, dass Frieden sei. Doch ist der Frieden da, spüren wir Panik, die so fordernd sein kann, dass man in den Traum ausweicht, anstatt sich der kreativen Leere zu stellen. Ausgerechnet sie, die doch das Warten verdient, lässt sich schwer aushalten. Warum ist das so? Ehrlich gesagt, darüber muss ich auch nochmal nachdenken...

 

Für die Ferienzeit wünsche ich Ihnen

Gedankenfülle, Goldfilter, Freiheit und Sommerwind!


Ihre Violeta Mikic.