Violeta Mikić

Pausenbrief 06 | 2025

Schöne neue Ohnmacht

Liebe Leserinnen, liebe Leser

hier gewittert es gerade. Ich ziehe das Kabel aus meinem Laptop, alte Gewohnheit. Es triggert heute eine Erfahrung, die ich kürzlich machen musste:


Ich war am 28. April in Lissabon. Das ist der Tag, an dem auf der Iberischen Halbinsel die Stromversorgung ausfiel. Einer der größten Blackouts in der Geschichte Portugals wie Spaniens. Über 12 Stunden war der Alltag von Millionen vom Lebensnerv abgeschnitten, weil ein flächendeckender digitaler Detox alles lahmgelegt hat. Man sagt das so schön "digitaler Detox". Eine Sache für die Fastenzeit. Oder ein hübscher Beitrag, den man als Fortschrittsgegner*in mal einbaut, um runterzukommen. Lissabon vor Ort:


Kein Internet. Keine Mails, keine Timer, keine Nummern. Folglich keine Verabredungen. Keine Rückfluge. Keine Kontoverbindung. Hatte man kein Bargeld, ließ sich kein Brötchen kaufen. Hätte man Bargeld gehabt, wurden die Brötchen knapp, denn die Bäcker konnten nicht mehr backen. Die Supermärkte ihre Waren nicht kühlen. Verkaufsstopp. Wenn sich überhaupt ihre Türen hätten öffnen lassen. Andere Branchen schlossen die Türen vorsätzlich. Es waren so viele hilflose und schließlich aggressive Menschen auf den Straßen, dass Hoteliers, Wirte, Geschäftsinhaber unsicher wurden, ob das Hamstern losgeht. Und es ging los. Wasserhamstern. Leute gesehen, die mit Autoschlüsseln aufeinander losgingen. Dann wurde es Nacht. Bis auf Notaggregate keine technische Wärmezufuhr. Keine Straßenbeleuchtung. Auch sonst kein Licht, Handys leer. Und die Wahrheit ist, hinter den Verheißungen des "digitalen Detox", der in Form eines Blackouts überhaupt keine Wahl lässt, erweist sich unsere Welt als analoge Dystopie. "Schöne neue Welt" war schon bei Huxley ein Zynismus.


Und wir wissen das alles. Ich weiß es. Das macht mich an dieser Erfahrung so fertig. Dass mein Leben, meine Gesundheit, meine Arbeit, inzwischen weite Felder meiner Beziehungen wissentlich auf einer Krücke gebaut sind. Die Krücke kann ich anfassen. Es ist mein Kabel. Diese Nabelschnur, die unsere Gesellschaften ernährt. Doch Nabelschnüre haben es so an sich, durchtrennt zu werden. Wir aber hoffen weiter darauf, blind und tief unfrei, dass die Krücke uns sicher bis ins Grab trägt. Doch, leider, diese Krücke ist selbst ein Sargnagel.

 

Noch 32%,

Ihre Violeta Mikic.