Pausenbrief 09 | 2021
Was ist wichtiger als der Mensch?
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
seit 30 Jahren heißt es, es sei 5 vor 12, wenn man auf den Zustand unserer Lebensbedingungen blickt. Dass das nicht sein kann, ist den meisten jetzt klar. Das Pandemiegeschehen hat es auch in Europa auf den Punkt gebracht. Die guten, das heißt die geschützten Zeiten sind vorbei. Die Prognosen zum evolutionären Überleben, die sich auf das Ende des 21. Jahrhunderts beziehen, sind vom Weltklimarat gerade um 70 Jahre herunterkorrigiert worden. Demnach setzt unsere zivile und ökologische Apokalypse in 9 Jahren ein. Man kann auch das noch ein Spiel mit Zahlen nennen. Aber besser, es an den Fingern abzuzählen, wenn anderes die nötige Einsicht nicht schafft: Die menschliche Spezies löscht sich und andere Spezies aus. Das Skandalon liegt natürlich im zweiten Teil des Fakts. Alle anderen Spezies und Strukturen sterben nicht bloß mit, sondern zumeist vor uns, weil ihre Logiken keine Teilhabe an unseren Entscheidungsfindungen haben.
Von daher frage ich mich, ob wir von unserem famosen Abstraktionsvermögen nicht auch einfach mal wider uns selbst Gebrauch machen können: Was ist wichtiger als der Mensch? Diese Frage habe ich meinem Team, daneben Bekannten, Freunden, engen Kolleg*innen gestellt. Das stieß auf so viel spontane Resonanz, im Folgenden ein Querschnitt durch die Antworten, die mich seit Tagen umtreiben:
ALLES! So lautete die erste Replik. Sowohl kleingeschrieben: "alles ist wichtiger als der Mensch" als auch "wichtiger als der Mensch ist: Alles." Die Unterscheidung finde ich faszinierend. Das Erste wirkt quantifizierend, das Zweite eher qualifizierend, es erinnert mich an die Großschreibung bei Gottesnamen.
Eine ganze Gruppe von Antworten betont "die nicht-menschliche Welt": "die Natur", "die Umwelt", "der Globus", "der Planet", "die Planeten"; "die Elemente", "Galaxien", "die Artenvielfalt". Interessanterweise haben sich die meisten hier für ihre "intuitive" Antwort entschuldigt, weil das ja "eigentlich offensichtlich" sei. Naja, aber so offensichtlich wohl doch nicht, wenn man auf politische Entscheidungen schaut! Einen Witz, der einging, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: "Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine, indem er sich schubbert und kratzt: 'Ich glaub, ich hab homo sapiens.' Sagt der andere: 'Ach, das hatte ich auch. Das geht vorüber'."…
Dann kamen Antworten wie: "Mein Garten". Das ist eine beinahe zärtliche Art um zu sagen, dass "Alles" wichtiger sei. Frappierend auch dies: "Das Leben selbst!" Denn das heißt doch, dass nicht der Mensch im Besitz des Lebens ist, sondern geradezu umgekehrt, dass das Leben eine unteilbare Größe darstellt, die sich unter vielem anderen auch dem Menschen zur Verfügung stellt. Vielleicht so wie das Bewusstsein?
Vom Hocker gehauen in der Geradlinigkeit hat mich: "Die Menschen". Na klar, wichtiger als eine*r sind viele! "Das Wir!" Das führt auch in den Bereich der Lebensphilosophie. Eine Antwort lautete: "Wichtiger als der Mensch ist ein Mensch". "Der Mensch" stelle eine Versachlichung dar, hingegen sei "ein Mensch" eben immer das Individuum, der einzelne, leidensfähige Körper. Eine Kollegin erinnerte dies an ein Gespräch aus Dostojewskijs Brüdern Karamasow. Den Menschen zu lieben, sagt dort ein Starez, bedeutet, dass man die Menschen nicht liebt. Oder dass man nicht lieben kann.
"Die Menschenrechte". "Das Grundgesetz". "Meine Werte, die ich mit anderen als Richtlinien vereinbart habe". Eine Größe wie die der Natur, übersetzt in Handlungen und Entscheidungen kreiert soziale Metaordnungen. Als Gesamtschau: "Frieden". Und "die Liebe". Liebe hier verstanden als politische (nicht nur persönliche oder religiöse) Norm. Das nenne ich fast revolutionär.
"Die Zeit". – In ihr ist alles, möglicherweise Alles enthalten.
Eine der letzten Antworten ist in ihrer Konsequenz selbstaufheblich und trifft sich insofern mit dem Impuls, weshalb ich die heutige Frage stellte, auch wenn diese dadurch mit aufgehoben wird: "Etwas, das diese Frage nicht stellen muss". Ich frage mich nun: Gibt es ein Gegenteil des Menschen?
"...und die Kätzchen"!
Ihre
Violeta Mikić