Violeta Mikić

Pausenbrief 06 | 2023

Gedankenposen

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

in der Vorbereitung für diesen neuen Pausenbrief hatte ich mir Notizen gemacht. Als ich sie heute las, entdeckte ich einen Fauxpas: ich schrieb "Gedankenlose", meinte aber "Gedankenpose". Vielleicht war ich sogar gedankenlos, aber es muss doch auf konzentrierte Weise geschehen sein, denn der Vertipper ist so schön sprechend! Er sagt in Kurzform eigentlich alles, was diese vorüberhuschende, verräterische Erscheinung des Augenblicks bedeutet, mit der ein Gedanke, der auf der Suche nach draußen ist, sich als körperliche Haltung in uns formiert. Ich bin meinem Vertipper jetzt fast dankbar. Denn man kommt einer solchen Gedankenpose nicht leicht auf die Schliche. Was soll das sein, die Pose eines Gedankens? Ein Muskelprotz, der mit einer Idee flirtet?


Eher nicht. Mit Posing, Prahlen und Gehabe hat meine Gedankenpose nichts zu tun. Im Gegenteil, es handelt sich um etwas genuin Innerliches; die Pose steht hier im Zusammenhang mit Aussagekraft, Habitus, Charakter. Sie kann sich kulturell unterscheiden, unterliegt also einem gewissen überindividuellen Einfluss, subjektiv aber ist sie kaum zu steuern. Eine Gedankenpose zeigt, was wir denken, bevor wir es sagen.


Stellen Sie sich ein Filmtheater vor, während der Film läuft, und zwar aus Sicht der Leinwand. Sie schauen von der Filmbühne aus ins Publikum. Dort sehen Sie ein paar hundert Gesichter, alle bestens erleuchtet durch das weit in den Kinosaal hineingestreute Licht. Ich bin mir sicher, dass Sie der Vorstellung folgen können, auch wenn Sie selbst den Film weder kennen noch anschauen. Die Physis des Ausdrucks im Publikum dürfte Ihnen hinreichend Anhaltspunkte geben – wie sich Hälse recken, Augen weiten, Haare gerauft und Ohrläppchen gerieben werden. Das sind alles körperliche Signale, die anzeigen, wie Gedanken verlaufen, die nicht geäußert werden, weil man im Kino eben nicht laut sprechen darf. Ein Raum voller Gedankenposen! Und wahrscheinlich werden Sie auch noch die Gedankenpose "Popcorn essen" sehen können, bevor die Person, der sie gehört, aufgestanden ist, um zur Kasse zu wandern. Der Körper funktioniert selbst wie eine Leinwand, er visualisiert die Ankündigung des gesprochenen Wortes.


Möchten Sie's noch genauer wissen? Dann googeln Sie einmal The Wild Party, Komödie, USA 1929, Regie Dorothy Arzner. Sie werden rasch ein schwarz-weiß Still aus diesem Film finden, das vor einigen Jahren selbst wild durchs Netz sprang. Es zeigt das Auditorium eines ausschließlich mit College-Girls besetzten Hörsaals aus Sicht des Pults und titelt A sex education lesson 1929. Sie werden alles sehen, was die Girls sehen, ohne dass irgendetwas gezeigt würde... Das nenne ich Gedankenposen! Köstlich gedankenlos und wahrscheinlich auch eine Posse, aber darin doch wie genau.

 

Ihre Violeta Mikić


Bildquelle: https://mubi.com/de/films/the-wild-party