Pausenbrief 12 | 2020
Kamera läuft!
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
ich möchte noch einmal
auf die "Digitale Kommunikation" zu sprechen kommen. Der zweite
Lockdown ist da, wir alle haben Monate im Home-Office hinter uns und
wahrscheinlich mehr Lebenszeit vor unseren Rechnern zugebracht als jeder
Digital Native es sich für die Gesellschaftsutopie hätte erträumen können.
Viele spüren ihre Grenzen, emotional wie körperlich. Immer öfter ist man
kraft-, wenn nicht mutlos, einfach ausgepowert nach Online-Meeting und Videokonferenz,
und das, obschon das Internet ja für den Erhalt unserer Kommunikation sorgt.
Wie kann es also sein, frage ich mich, dass Menschen Ängste, akute
Präsenzblockaden, inzwischen sogar Wut entwickeln gerade da, wo Präsenz
ermöglicht wird?
Nun, wenn man einmal von
außen auf unsere digitale Kommunikation schaut, wird rasch klar, dass der
Unterschied zu analogen Kontaktformen in einer Verschiebung liegt:
Treffen sich zwei
Menschen im Büro vor Ort, sind zwei Akteure da. Treffen sich dieselben beiden
Menschen im Büro online, existieren drei Akteure – zwischen Frau X und Herrn Y
sitzt eine Kamera. Egal ob PC, Laptop, Smartphone, Großbildleinwand oder
Monitor – plötzlich ist die Screen mit dem künstlichen Auge das Scharnier
unseres Austauschs und Partner all unserer Unterhaltungen und nicht, sagen wir:
eine gute Idee, eine schöne Aussicht, ein gemeinsames Ziel! Die meisten haben
sich den Impact lange nicht klar gemacht, vielleicht nicht klarmachen wollen.
Viele dachten, ach, es ist eben ein Hilfsmittel, dieses Äuglein ist so klein,
das stört doch niemanden, und es ist technisch einfach notwendig, damit wir
interagieren können. Mag sein. Aber technische Notwendigkeit war schon öfter
der Grund für zivilisatorische Krisen. Die Wahrheit ist, dass wir es bei dieser
Kamera, die uns beim Sehen ansieht, mit einem Stilmittel zu tun haben in dem
Sinn, dass sich unsere Umgangsformen unter ihrem Einfluss massiv verändern. Und
dass wir dies in den meisten Fällen weder wünschen noch spontan bemerken, daher
rührt die Belastung. Unser kognitives System muss permanent eine paradoxe
Information verarbeiten: Die Kamera im Rechner erinnert uns daran, dass wir in
dem Moment, da wir uns mit anderen verbinden, von diesen getrennt sind. In
großer Nähe so fern.
Formal entspricht das
eigentlich der Grundsituation in einem Theater. Die Schauspieler*innen sind
dort, das Publikum hier, und getrennt werden sie durch die berühmte unsichtbare
"Vierte Wand", in die der Vorhang eingehängt ist und die in der Regel
weder von Darstellenden noch Zuschauenden durchschritten wird. Die Vierte Wand
ist illusionär wie die Kamera in unseren Rechnern. Der Unterschied ist, dass
diese Vierte Wand selbst nicht agiert. Sie ist wirklich ein Durchguck, ein Fenster, das uns nichts abfordert.
Das Kameraauge im Rechner hingegen muss man anschalten, warten, justieren: Es
zwingt uns, unablässig Entscheidungen zu treffen, die eigene Haltung,
Ausstattung, Position, Mimik und Gestik an die Bedürfnisse unseres Gegenüber
anzupassen. Die Kamera im Kontext der digitalen Bühne zwingt uns hineinzuschauen, damit
unsere Gesprächspartner*innen ein Wohlgefühl, ja überhaupt den Kontakt zu uns
bekommen. Das aber heißt: Was für mein Gegenüber eine Erleichterung ist, ist
für mich selbst eine Phantomhandlung. Denn realiter ist im Home-Office-Meeting niemand
da, der mir gegenüber sitzt. Wer Gegenteiliges behauptet, ist ein Spötter oder
Futurist oder einfach nur ein Optimist an falscher Stelle –Berührungen, seien
sie nun kommunikativer, emotionaler oder körperlicher Art sind niemals durch
gepixelte Repräsentationen unserer selbst ersetzbar.
An diesem Punkt, überlege
ich, möchte ich Ihnen auch noch einmal Tips & Tricks an die Hand geben, wie
Sie sich bei Online-Meetings konkret vor einer Kamera einrichten können. Damit bin ich
allerdings schon beim nächsten Pausenbrief und – im nächsten Jahr!
Unmerklich sind wir in
den Dezember gerutscht, liebe Leserinnen und Leser. Und nun kann ich Ihnen beim
besten Willen nicht heute schon alles Gute zum Fest wünschen. Aber schauen wir
auf den Advent! Advent ist unsere "schöne Kamera", durch die wir die
Weihnachtszeit bereits sehen, obwohl es noch hin ist. Fast ein bisschen eine
Illusion. Und doch – in weiter Ferne so nah.
Ich wünsche Ihnen Kraft
und Gelassenheit,
ein Schiff wird kommen!
Ihre Violeta Mikic.