Violeta Mikić

Pausenbrief 06 | 2017

Gefühle vom Feinsten – der hochsensible Mensch
Von Prinzessinnen, Erbsen, Raubtieren und möglichst offenen Ohren

Liebe Leser,

erinnern Sie sich an das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse? Hans Christian Andersen erzählte darin anno 1837 von einer blaublütigen Jungfer, die auf ihrer Ruhestätte von 20 Matratzen den Druck einer ganz unten liegenden Mini-Hülsenfrucht erspürte und bitter beklagte. Der dänische Dichter – höchstselbst eine äußerst empfindsame Seele – brach mit seiner Geschichte eine Lanze für den Typus des hochsensiblen Menschen. Allein ein Wesen wahrlich edlen Gemüts vermochte Andersen zufolge eine solche Feinfühligkeit aufzubringen. Wie wichtig diese sonst so oft geschmähten (weil als anstrengend empfundenen) Charaktere mitsamt ihren vielfältigen Beschwerden für jedwedes soziale Miteinander tatsächlich sind, das erfahren Sie hier. Und wie immer heißt es dabei: Genießen Sie Ihre Pause!  

 

Um die 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, also jeder Sechste, verbringt den Großteil seines Lebens auf Alarmstufe Rot. Geräusche, Gerüche, Berührungen werden überdeutlich wahrgenommen und bereiten den sogenannten Hochsensiblen reichlich Stress. Sie beklagen sich über Dinge, die andere nicht einmal bemerken: das leise Flackern einer Neonlampe im Büro, das Deodorant oder der schnaufende Atem eines Kollegen. Ist diese (Über-) Empfindlichkeit ein Handicap? Nicht unbedingt. Die Psychologin Elaine N. Aron präsentierte uns in den 1990er-Jahren die positive Kehrseite der Medaille: Während eine achtlose Bemerkung die Betroffenen in tagelanges Brüten versetzen kann, genügen eine freundliche Geste oder ein Kompliment für nicht minder anhaltende euphorische Glückszustände. Die Hochsensiblen leben schlicht intensiver – und das erstaunlicherweise zum Nutzen aller. 

 

In grauer Vorzeit waren es jene zart Besaiteten, die als Erste das nahende Raubtier im Gebüsch hörten, sahen oder erspürten und die Gruppe vor der Gefahr warnen konnten. Führungskräfte von heute berichten häufig über die Erfahrung, dass die Hochsensiblen als Erste schwelende Konflikte im Team bemerken, latente Risiken erkennen und entsprechend frühzeitig wertvolle Alarmsignale aussenden. Selbst gesundheitsbelastende Faktoren in Gebäuden kamen dem Emotionsforscher Michael Jawer zufolge dank solcher »Unkenrufe« zur Sprache, bevor bautechnische Analysen den betroffenen Unternehmen ergonomisch ungünstige Arbeitsplätze, schlechte Beleuchtung oder gar giftige Spurenelemente in der Luft bescheinigten. Die Hochsensiblen haben aber nicht nur eine wichtige Mahnerrolle, sondern sind zumeist auch außergewöhnlich kreativ. Nicht umsonst finden sich unter Schriftstellern (wie dem oben genannten Andersen), Philosophen, Künstlern, Musikern und Forschern exorbitant empfindsame Charaktere. Und da Not bekanntlich erfinderisch macht, sind diese Kandidaten ganz besonders lösungsorientiert. Sie verdienen unsere volle Aufmerksamkeit und offene Ohren! 

 

In diesem Sinne verbleibe ich bekennend sensibel:  

 

Ihre Violeta Mikić. 

 

 

 

 

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