Violeta Mikić

Pausenbrief  11 | 2019

Gefühle sind en vogue?

Liebe Leserinnen und Leser, 

in einem Gespräch hörte ich kürzlich, was sich als Thema in meiner Branche schon seit Monaten mehr und mehr Aufmerksamkeit verschafft: "Gefühle sind en vogue." Man hätte nicht besser auf den Punkt bringen können, wie der Topos im Moment verhandelt wird. Gefühle sind en vogue – wie gut! Spontan stimmten wir alle zu, waren sogar erleichtert, zugegeben ohne genau zu wissen warum. Jedenfalls ist es höchste Zeit, dass Gefühle zu haben wieder Anerkennung findet. Zu viele Automaten überall, zu viel maschinelle Routinen. Unser eigentlicher Motor sind doch die Gefühle! Sie sind wichtig. Sie sind zielführend im Sinn eines harmonischen Miteinanders. Ein gefühlsbetonter Ausdruck wird als Synonym für die Fähigkeit verstanden, human zu kommunizieren. Viele meiner Kund*innen selbst wissen, dass die Palette der menschlichen Gefühle und wie man mit diesen umgeht, zum Kern meiner eigenen Arbeit als Coach gehört. Der Satz blieb bei mir hängen.


Allerdings am nächsten Tag hing er immer noch da. Und auch am übernächsten, Gefühle sind en vogue. Spätestens am dritten Tag war es ein Ohrwurm, und ich fing an, mich darüber zu wundern. Was soll denn das ganz genau heißen? Gefühle sind "in Mode"? Gefühle sind "in", "schick", "trendy"? Wenn man das ernst nimmt, bedeutet das doch, dass Gefühle auch ganz rasch wieder "out" sein können. Unmodische, untrendige, down-to-date Gefühle, die wir dann hätten. Das aber kann nicht sein, überlegte ich. Mehr noch, das darf nicht sein angesichts dessen, was authentische Empfindungen ausmacht:


Zum einen, dass nicht alle Gefühle schön sind. Hemmung, Traurigkeit, Zwang, Neid, Hass, Kriegstreiberei – wer meint, auch dies sei "in", riskiert den Zynismus. In der Idee, dass Gefühle en vogue seien, steckt also, dass Gefühle immer schön sind, nur weil man überhaupt welche hat. Schwierig, oder?


Und zum zweiten: Gefühle können gar nicht en vogue sein. Denn ungleich der Mode kann man sich seine Gefühle nicht aussuchen. Man hat sie. That's it. Wenn man glaubt, dass man keine Gefühle hat, dann ist dieses Null-Gefühl ein Gefühl, das sich unter einer dicken Mauerdecke so lange verborgen hält, bis es sich doch seinen Platz verschafft, vielleicht als große Liebe, vielleicht als Amoklauf.


"Gefühle sind en vogue" – als Satz weiter gut, aber der Sache nach einseitig. Letztlich klingt es, als hätte jemand die Devise ausgegeben "Mensch zu sein ist en vogue". Aber Mensch zu sein – man kann es mögen oder nicht –, am Faktum selbst lässt sich nichts ändern. In diesem Gefühl aller Gefühle gilt es erstmal, mit sich selbst ein Auskommen zu finden. Lasst uns daran arbeiten. Über den Catwalk reden wir dann.


 

Eine schöne, ruhige Adventszeit wünscht Ihnen


Ihre Violeta Mikić






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