Pausenbrief 11 | 2020
Aschenputtel am Birnbaum
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
was ist
"Präsenz"? Ich fahre kürzlich über Mittag auf einer Landstraße. Als
ich um eine Kurve biege, sehe ich, dass eine junge Frau mir auf meiner Seite
der Fahrbahn entgegenkommt. Zwar läuft sie dicht bei der Leitplanke, doch einen
Fußpfad gibt es nicht, und vor allem ist sie über ein Handy gebeugt. In dem
Moment, da wir auf gleicher Höhe sind, tippt sie etwas hinein. Die Situation
war rasch vorbei, aber im Nachhinein empfand ich das Ganze doch als gefährlich,
ich ärgerte mich sogar über das Mädchen. Ich fand ihr Verhalten fahrlässig und
unterstellte ihr mangelnde Präsenz. Heute denke ich noch einmal daran.
Allerdings komme ich zu einem anderen Ergebnis:
Die junge Frau wie ich
selbst – wir waren beide hochpräsent. Nur gemessen an der Situation eben nicht
auf vergleichbare Weise. Meine Präsenz zielte primär auf den Verkehr, ihre auf
eine Verbindung im Netz. Meine auf sie, ihre auf eine dritte Person, die oder
der für uns nur mittelbar beteiligt war.
Noch eine Situation aus
dem Straßenverkehr, der ja eine wunderbare Metapher für die Verlaufsformen
unserer Kommunikation darstellt: Ich entsinne mich an eine Folge der Sendung Versteckte
Kamera. Eine Kreuzung wurde gezeigt irgendwo in der Pampa, nachts, es gab
faktisch kein Verkehrsaufkommen. Wie sich später herausstellte, hatte die
Filmcrew alle Straßen mit Ausnahme einer Zufahrt für den Dreh vorübergehend
gesperrt. Die Ampel steht auf rot. Ein Auto nähert sich, hält an. Aber die
Ampel springt nicht auf grün. Zwei Leute sitzen im Auto. Erst merken sie gar
nichts, dann kommt es ihnen komisch vor, dann wird ihnen die Zeit lang, sie
reden etwas, dann lachen sie, schauen herum, dann warten sie erneut.
Schließlich fangen sie an zu diskutieren. Was würde man selbst tun? Weder
springt die Ampel an dieser Kreuzung auf grün noch kommt ein anderes Auto
vorbei. Überhaupt keine anderen Verkehrsteilnehmenden sind da. Es ist absurd.
Bei Rot zu passieren aber auch streng verboten. Und doch macht das Halten hier
überhaupt keinen Sinn. Ich würde sagen: Nun ist Präsenz gefragt! In diesem Fall
stieg einer der beide Männer aus dem Auto aus, schaute in die Luft,
gestikulierte herum, ging dann zur Ampel und rüttelte kräftig daran wie
Aschenputtel am Birnbaum. Richtig! Sich spontan in ein gesundes Verhältnis zur
eigenen Umgebung setzen zu können, das ist präsent!
Viele von uns kennen die
tragikomischen Geschichten von Leuten, die mit ihrem Pkw in der Landschaft
verloren gingen, weil sie ihrem Navi mehr vertraut hatten als den eigenen Erfahrungen.
Evolutionär betrachtet ist es wohl sogar weniger komisch als tragisch. Autos
haben Fenster, viele Menschen haben intakte Augen oder Ohren, ein Abgleich
zwischen dem Ort, wo man ist und dem Ort, wo man hin will, sollte sich von
selbst verstehen. Und tut es doch nicht. Das heißt, dass sinnliches und
mediales Agieren sich offenbar gerade voneinander trennen, obschon das eine
doch mit dem anderen verquickt ist. Präsenz aber spaltet sich. Präsenz kann
sich in einem Moment entweder dem Menschen oder der Maschine zuwenden. Das ist
fast ein Gesetz. Wer einen Anruf aufs Handy kriegt, bricht das Gespräch mit
seinem Gegenüber ab. Früher galt das als unhöflich, heute als effizient.
Generell ist das
"Informationszeitalter" eine Epoche, in der der affekthafte Abgleich
mit Input wichtig geworden ist. Die zuletzt hereingekommene Mail ist
psychologisch immer die wichtigste. Es ist aber noch nicht präsent, nur diesen
Abgleich zu bewerkstelligen. Input muss bewertet werden. Denn: Nur
Informationen, die wir für uns als wichtig herausfiltern können, führen zu einer
Wissenslage, die das Leben erleichtert und letztlich auch bereichert.
Fassen wir es für heute
so zusammenfassen: Präsenz ist die Fähigkeit zur Auswahl auf Tempo!
Ihre Violeta Mikic.