Pausenbrief 10 | 2020
Ellenbogen schaffen Platz
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
guten Tag! Ich möchte
etwas zur Sprache bringen, das alle betrifft und mich wie auch Freunde,
Kolleg*innen gerade sehr betroffen macht. Es geht mir um die neue Form unserer
Begrüßungen. Nur um einen Gestus. Um etwas vermeintlich Kleines. Aber in den
kleinen Dingen und unbewussten Abläufen, nicht den großen Politshows,
TV-Diskussionen und News-Tickern spiegelt sich der Zustand unserer
Gesellschaft.
Im Rahmen des Maßnahmenpakets
gegen die Ausbreitung des COVID-19 Virus unterliegen wir alle formellen
Kontaktbeschränkungen. Social Distancing – das Gebot des Abstands zum Nächsten –
hat nach wie vor Dringlichkeit und Gültigkeit. Wir lernen schmerzhaft, dass
Annäherungen, freundliche Berührungen zwei Seiten besitzen. Im selben Moment
kann ich mich einem lieben Menschen gegenüber öffnen und ihr oder ihm
potenziell schaden. Das ist absurd, das versteht unser kognitives System noch
nicht, ganz zu schweigen von Herz und Seele. Es sind tiefe, auf Dauer für
manche auch klinische Frustrationen damit verbunden. Sozial- und
kulturgeschichtlich kommt es ohnehin einer evolutionären Katastrophe gleich.
Man könnte sagen, Corona nimmt der konsumistischen Gesellschaft das, was diese
am meisten braucht – und darum natürlich am meisten abwehrt. 'Abwehr' ist denn
auch das Stichwort:
Vom Maßnahmenpaket ist
ebenso unser Guten-Tag-Sagen betroffen. Das Händeschütteln, ursprünglich eine
Geste des Friedensangebots ("Ich zeige Dir meine Waffenlosigkeit"),
selbst legere Berührungen der Schultern sind für unsere Begrüßungen lizensiert.
Als Einzelpersonen wie als Community haben wir damit das Problem: Wie sollen
wir den anderen jetzt zeigen, dass wir ihnen unsere ausgesuchte Aufmerksamkeit
schenken? Nun – Sie wissen es, 'wir' haben für uns den Gruß mit den Ellenbogen
erfunden.
Zwei, drei Leute kommen
aufeinander zu, doch statt wie bisher den Arm auszustrecken, winkeln sie diesen
abrupt ein und kicken sich mit den Ellenbogen an. Ich kann Ihnen nicht sagen,
wie traurig mich das macht. Wie traurig das im Kern ist. Alternativ gibt es den Gruß mit
den Fäusten. Man schnellt die geballte Hand nach vorne als wäre es ein Punch.
Meine Freundin wird damit – logisch – zum Punching-Ball, und wenn ich richtig
nett bin, ist es ein Knock-Out, oder was? Dieser angedeutete Faustschlag ist
auf die Schnelle den amerikanischen Sub-Communities entlehnt, wo er freilich
auf ganz raffinierte Weise eine Ironisierung der täglichen Gewalterfahrung
bedeutet und somit auch eine Bewältigung. Aber für solch Raffinement hat bei
uns keine*r das kulturelle Standing.
Ich sehe also unsere
Politiker*innen, wie sie Eingeweihten gleich, die wissen, dass sie alles
richtig machen, uns eine verabredete Geste vorturnen, die wir nachturnen
sollen, um unseren Gemeinsinn zu zelebrieren. Stolz vor allem auf sich selbst,
dass man so locker und offen für Veränderung ist. Aber was sich überträgt, ist
nichts als dumpfe Botschaft. Abgesehen davon, dass es von ferne wie amputiert
ausschaut (und emotional ja eben auch ist), – müsste nicht schon das Wort
'Ellenbogengesellschaft' einem zivilisierten Menschen genug sein, um dann
besser auf Abstand zu bleiben? Scham wäre auch ein guter Halt. Ich muss Ihnen
sagen, ich schäme mich wirklich, als Mensch und auch als Frau, jemand anderem
meine Ellenbogen oder Fäuste anzubieten. Gebärden mit Ellenbogen und Fäusten
sind im Grundsatz machistischer Gestus. Dieser zeigt an, dass man andere
Menschen verdrängen muss und führt es zugleich aus. Ellenbogen schaffen Platz
für einen ganz allein: das Ego.
Ich finde, das schreit
zum Himmel. Wir geben uns als Gemeinschaft so kultiviert. Aber ein Blick in die
Runde reicht um zu begreifen, dass wir uns brutalisieren. Und diese Einübungen
verkaufen wir den anderen dann als Freundlichkeit. Es kommt wie immer
schleichend. Aber bitte sagen wir später nicht, dass es nicht zu sehen gewesen
wäre.
Anders formuliert: Was
können wir, die wir nicht einverstanden sind, tun? Hört auf, mitzutun! Nein,
ich knicke nicht ein, weder seelisch noch mit dem Arm. Mein Körper gibt sich
nicht her für diese Denke. Stattdessen erfinde ich etwas Neues. Das kann
spontan sein. Alle Rituale der Welt sind einmal erfunden worden. Erfinden wir
also für uns ein neues, unverdorbenes, heiteres Ritual für unser Hallo. Nur
bitte ohne Kitsch, denn der ist auch gewaltsam. Yoginis, Yogis, wo ist Euer
drittes Auge?! In der Levante gibt es das wunderschöne Sprichwort "Das
Guten-Tag-Sagen kommt von Gott." Das muss niemand wörtlich nehmen. Aber
die Richtung stimmt.
Salām, schalom,
Ihre Violeta Mikic.